Autor: Thomas Girst
Über alles mögliche in Literatur und Kunst
"Ne fooldesthow nat to-gydere by replycasion" (Geoffrey Chaucer, 1374)
"Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu" - so will es zumindest Das Buch Genesis (Kapitel 2/22): Adam und Eva, aus der Rippe Adams erschaffen, im Paradies. Auf der Spurensuche nach dem ersten Replikanten jedoch weit gefehlt, denn geht man selbst davon aus, daß die fünf Bücher Moses auf mündliche und schriftliche Traditionen bis zum Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus zurückreichen, dann behauptet sich folgender anachronistischer Lazarus avant la lettre bereits seit über 1000 Jahren - Ehre, wem Ehre gebührt: Die Bühne also frei für Enkidu, dem Helden nicht nur der vierten sumerischen Dichtung des gutmöglich v. Chr.) entstandenen Zyklus: Als guter Knecht des Herrschers Gilgamesch - dem König der Doppelstadt Uruk-Kullab im Zweistromland-wandelt Enkidu in die Unterwelt, um den von Gilgamesch aus dem Baum der Göttin Innana geschnitzten Reifen zurückzuholen. Da er aber die Anweisungen seines Königs zum Aufenthalt in der Unterwelt stets gegenteilig befolgt, wird er so lange dort festgehalten, bis es Enki, dem Gott der Weisheit, schließlich gelingt, ihn zurück auf die Erde zu holen- der zurückgekehrte Enkidu als erster Replikator: Ob Totengeist oder als dem Leben wiedergewonnener Mensch - von den über sechzig Fragen des Gilgamesch zum Verbleib seines Knechtes beantwortet er keine, über sein weiteres Schicksal wird nichts berichtet.
Noch ein Zeitsprung, zu Platon - diesmal mitten in die Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus: Die Dichter, Verfasser der Genesis und des Gilgamesch inklusive, verbannt dieser aus seinem idealen Staat: Denn wie kann die gesamte ars poetica, mitsamt der Dichtkunst, in welcher Replikatoren erscheinen, etwas anderes sein als die Replik einer Replik? Staat (10. Buch), der Begriff der Mimesis/Nachahmung: So gibt es etwa die Idee des Bettes als "Urbild des Bettes" (frisch aus dem kosmos noetos, unveränderlich und vollkommen), dann das vom Tischler gefertigte Bett (dies unvollkommene Sinnending aus der Welt des Wahrnehmbaren, kosmos aisthetos) und schließlich das gemalte Bett. So ist jedes Kunstwerk a priori eine unvollkommene Replik. Aber nicht nur das:
Anderswo, in der von ihm festgehaltenen Rede des Aristophanes, finden wir eine ganz eigensinnige Beschreibung der Entstehung von Mann und Frau. Vom Mond her kommend, gab es nämlich noch ein drittes Menschengeschlecht- den Mannweibmensch mit doppeltem Kopf, vier Beinen und Händen und selbstverständlich zwei Genitalien. Dem großen Zeus wurden diese Wesen zu mächtig und so teilte er sie entzwei. Hälften eines gleichen Wesens, die sich auch heute noch suchen und begehren, verfielfältigen und reproduzieren: "Jeder von uns Menschen ist Stück von einem anderen Menschen, denn nur durch den Willen der Götter sind aus einem zwei geworden" - und die Götter selbst, die konnten sich meist in alles und jeden verwandeln.
Jedoch genug vom Olymp- ersteinmal der Versuch einer Begriffserklärung:
Faksimile, Kopie, Data, Multiple, Nachahmung, Imitat, Duplikat, Counterfeit, Engel, (siamesischer) Zwilling, "Nimm 2", Potenz (algebraische), Plagiat, Nachbildung, Reproduktion, Xerox, Verfielfältigung, Doppelgänger, L'Autre, Ethopoeie, Terminator, Spiegelbild, Replik, Tautologie, Simulakrum, Metamorphose, Dreifaltigkeit, Jekyli/Hyde, Alchimie, Druckerpresse, Auferstehung, Androide, Androgyne, Alliteration, Theater, Fabel, Übersetzung, "Biade Runner", Mumie, Automat, Dummy, Symmetrie, Kybernetik, Cyberspace, Negativ, Synonym, Simili, Vexierbild, Dolly, Drakula, Zombie, Chaostheorie, Schallplatte, Voodoo, LSD, Janus, Zwitter, Traum, Roboter, Porträt, Deja -vu, Abziehbild, Abzug, Vielfalt, die "La Ola- Welle", Narziß, Doublette, Double, Hermaphrodit, Duplikat, Abdruck, Logarithmus, Parallelität, 4. Dimension, CD, serial killer, Paar, Pseudonym, Alter Ego, Namensvetter, Kernspaltung, Spiegelbild, Zellteilung, Matrize, Durchschlag, Schatten, Fata Morgana, Spur, Imprint, Diskette, Palindrom, Anagramm, Kupferstich, Lithographie, Radierung, Gußform, Scanner, Doppelhelix, image-fiction, Klone, TV, Playback, Stuntman, Durchpausen, Homonym, inframince, Wdh,. Alias, a.k.a., ß, etc., usw., und, Serialität, Teufelskreis, OIT-Set, Mimesis, schwarzes Loch, Metafiktion, Analogie, Adaption, Remake, Transformer, Reinkarnation, Cameo, Transsubstantiation, Häutung, Metamorphose, trompe l'oeil, Placebo, "Das zweite Gesicht", Dopplereffekt, Metempsychose, Ikone.
Babylonisches Gebabbel, biblische Sprachenverwirrung, doch bevor uns Eva 1886 wiederbegegnet, erstmals eine etymologische/sprachgeschichtliche Herleitung: eigtl. also plica (lat. Falte), ein wieder auseinanderfalten. 1622 begegnet uns in der englischen Sprache erstmalig der Replikant als applicant, als Applikant: Bewerber. Und zwar in Mabbes Übersetzung aus dem Jahre 1622 von Mateo Alemans Guzmän de Alfarache (1604): "Another replicant [ ... ] beseeching him to bestow upon him some old shirt".
Der Brockhaus in seiner Leipziger Ausgabe von 1908 (Band XII I) bringt noch mehr Varianten mit hinein ins Spiel, replizieren kennt er nur als entgegnen (engl. reply, frz. replique) ein Erwidern v. a. in Prozeßverfahren, jedoch: "Auf die Replik kann eine Duplik, auf diese allenfalls eine Triplik und sogar Quadruplik folgen".
Bevor es zu kompliziert wird, konstatieren wir lieber ein "Schuster, bleib' bei deinen Leisten", zumal ja auch Zeus zum Auseinandertrennen der doppelten Hermaphroditen ebenfalls ein Werkzeug benutzte, ähnlich jenen, dessen sich die Schuster zum Glattstreichen des Leders bedienen - und kehren wir zurück zu unserem Replikanten von 1622, der um ein altes Hemd zum Ankleiden bittet - nur um festzustellen, daß die Folgegeneration nicht mehr zu betteln braucht: In L'Eve Future (1886), dem Dekadenzroman von Villiers de L'lsle-Adam, wird Eva ganz und gar eingekleidet, denn sie ist ein mit Haut & Haar reproduzierter weiblicher Automat: Lord Celian Ewald liebt die wunderschöne Sängerin Alicia Clary. Die ist ihm jedoch vom Geist her derart mittelmäßig, daß er Thomas Alva Edison (den Erfinder u.a. des Grammophons) darum bittet, ihm ein elektro-magnetisches Geschöpf zu basteln - Hadaly, die "Androsphynge"- ,welche er, so perfekt ist sie, im Laufe des Romans schließlich mit Alicia verwechseln wird.
Keineswegs auf die leichte Schulter zu nehmen dies: Paul Virilio, der große frz. Ästhetiker & Philosoph des Verschwindens & der Geschwindigkeit, erklärt dazu zukunftsweisend in einem Gespräch mit der Leiterin der documenta X (1997), Catherine David: "Alle sollten noch einmal das große Buch von Villiers de L'Isle-Adam, Die Eva der Zukunft, lesen, die den Ursprung der Maria in Fritz Langs Metropolis bildet, der elektrischen Frau. Er nimmt die Überschreitung des Körpers durch Wellenkörper, durch Sende- und Empfangskörper voraus, also die Cybersexualität, aber auch die Cybersozialität oder die Cyberkultur im allgemeinen". (Seit William Gibsons Newromancer von 1984 sind es Autoren wie Douglas Coupland oder Mark Leyner, die die etwas beliebigere Spielart vom Replikator im Cyberspace zum Thema machen).
Von der Zukunft der Eva der Zukunft zurück in ihre Vergangenheit, an die Ingolstädter Uni, wo der Naturwissenschaftler Victor nicht besseres zu tun hat, als aus Menschenknochen und Leichenteilen etwas zusammenzusetzen, das seinen Nachnamen trägt und seit dem Erscheinen von Mary Shelleys Roman 1818 in zahlreichen Repliken unvergeßlich geworden ist: Frankenstein.
Hierzulande treibt außerdem, diesmal nicht fiktiv, E.T.A. Hoffmann sein Doppelspiel, und seine Elixiere des Teufels nahm Freud Anfang dieses Jahrhunderts zum Anlaß, in „Das Unheimliche“ auch das Phänomen des Doppelgängers zu untersuchen. Die Ich-Verdoppelung als "energische Dementierung der Macht des Todes" (Otto Rank), "wahrscheinlich war die "unsterbliche" Seele der erste Doppelgänger des Leibes". Ob die Wiederkehr der Toten oder der dämonische Charakter eines inneren Wiederholungszwanges - all dies weist für Freud unheimlich zurück auf die Versuchungen des Aberglaubens unserer "primitiven" Urahnen. Und eben diese Welt hat James George Frazer zu Freuds Zeiten in 12 Bänden (The Golden Bough - A Study in Magie and Religion) beschrieben:
Hier schnauft der Eskimo nachahmend wie der verwundete Wal, den er mit einem verzauberten Speer getroffen hat, Vegetationsgottheiten werden im europäischen Volksbrauch doppelt dargestellt - durch Pflanzen und durch Puppen, Repliken von Hexen werden verbrannt, um den Zauber zu bannen, und während einer Dürre im Taraschansk-Gebiet grub man noch 1868 die Leiche eines Dissidenten aus und ahmte Regen nach, indem man flehend Wasser durch ein Sieb auf den Leichnam fließen ließ.
Doch zurück und in der Zeit voran zu Freud oder vielmehr hin zu seiner Nachkommenschaft, denn dort ist es Jacques Lacan, der ein nicht unwichtiges Wort zu unserem Thema salonfähig machte: L' Autre, das Andere, the Other: in der Spiegelphase erkennt das Kleinkind zum ersten Mal sich selbst, gestikulierend stellt es eine Beziehung zu seiner/ ihrer Spiegelung her, die Erschaffung des Ideal-Ich, das immer fiktiv bleiben muß, da der Spiegel das Kind und dessen/deren Wissen um die eigene Psyche und Physis gefälscht offeriert. Nicht nur die Psychoanalytiker, auch die Künstler haben sich mit der (gesellschaftlichen) Konstruktion des Seins auseinandergesetzt, und deshalb nun ein Nachschlag zum Doppelgänger, der Replik in der Literatur:
Miguel de Cervantes Saavendra läßt im zweiten Teil des Don Quijote (1605/1615) selbigem von seinem Knecht Sancho Pansa von den Historien des Cide Homete Beregeli berichten, in welchen von den Geschichten des Don Quijote aus dem ersten Teil berichtet wird - somit wird die erste Hälfte des Romans zur Fiktion der Fiktion der zweiten Hälfte des Romans.
Dostojevskijs Der Doppelgänger (1846). Goljadkin hoch zwei, ist ebenso bekannt wie das Doppelspiel von Mr. und Mrs. Martin in Ionescos Die kahle Sängerin (1950) – vielleicht weniger die Erzählung EI Altro (1975) des argentinischen Autors Jorge Luis Borges, in der der fiktive Protagonist Borges auf einen fiktiven Borges trifft. Was die Replik anbelangt, ist Borges Spezialist: in einer weiteren Geschichte werden Landkarten erwähnt, die so präzise sind, daß sie 1:1 die auf ihnen reproduzierte Landschaft abdecken.
Goethes Faust dagegen hält die Replik im eigenen Leib ( "Es wohnen, ach, zwei Seelen in meiner Brust"), wohingegen Artbur Rimbaud in den Seherbriefen (1871) festhält "Ich ist ein Anderer". Der Selbstmörder Heinrich von Kleist ist es, der in seinem Aufsatz Über das Marionettentheater (1810) die Replik in ihrer natürlichen Grazie als Gott gleich erhebt und sie über das fortwährend reflektierende Bewußtsein des Menschen stellt - zu einer Zeit übrigens, als ganz Europa von schachspielenden Automatenmenschen (ein Trick, wie sich herausstellen sollte, denn ein Zwerg saß im untergestellten Kasten und steuerte die Bewegungen) an der Nase herumführen ließ.
1940 ist es der irische Autor Flann O'Brien, der mit seinem Roman Der Dritte Polizist (1940) die Atomtheorie aufstellt: Je mehr Zeit man mit einem Gegenstand verbringt, desto mehr wird man zu diesem Gegenstand, da die Atome z.B. eines Fahrrads, auf eine Person, die sehr viel Fahrrad fährt, übertragen werden, weswegen z.B. ständige Fahrradfahrer nicht mehr ohne irgendwo anzulehnen ruhig und aufrecht stehen können, da sie sonst das Gleichgewicht verlören.
Und noch einmal in die Zeit um Christi Geburt, zu Ovids Metamorphosen, wo sich Menschen in Pflanzen wandeln und Pygmalion, der zyprische König, von seinem Frauenideal eine lebensechte Statue anfertigen läßt, da keine lebende Schönheit seinen Ansprüchen gerecht wird (es war übrigens Dürer, der in Nürnberg Dutzende von Frauen flanieren ließ, um aus ihnen den idealen weiblichen Körper zu kredenzen). Aphrodite hat Mitleid, erweckt die Statue zu Leben und Galatea, so heiß! Sie nun, gebiert dem König sogar ein Kind. 1913 dann ist Pygmalion Namenspatron für George Bernhard Shaws bekannteste Komödie, allerdings spielt er dort den Professor Henry Higgins, der das Blumenmädchen Eliza Doolittle zu formen und zu bilden sucht.
Jedoch nun zur Kunst, zur bildenden:
Von römischen Skulpturen über monastische Buchmalereien und Künstlerwerkstätten der Renaissance zum Multiple des 20. Jahrhunderts: Die Kopie, die Replik, hat es immer gegeben - aber erst im 20. Jahrhundert befindet sich Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: der wichtige Aufsatz von Walter Benjamin von 1935, marxistisch-materialistisch - Einforderung einer Politisierung der Kunst, weg von der ästhetischen Beliebigkeil eines l'art pour l'art: Guß, Prägung, Holzschnitt, Kupferstich, dies hat es zwar alles vorher gegeben - vor allem aber Lithographie und später Photographie und später Film heben die Autorität der Einmaligkeit des Kunstwerks, die Aura des fernen Hier & jetzt endgültig auf (erste xerographische Kopie: 1938).
Alles schön und gut, doch mit Politik scheinen unsere postmodern-ironisierenden Copy-Art Künstler der zweiten Hälfte dieses 20. Jahrhunderts nicht viel am Hut zu haben. Reproduktion bedeutet hier in erster Linie Kohle. Obschon der Serialität (Dol lamoten, Suppendosen, usw.) verschrieben, holt Warhol die Aura via Star-Kult der eigenen Person zurück, und wäre er nicht gestorben, er würde nun seine eigenen Werke reproduzierend zitieren, wie all die greisen Pop-Artisten der 90er. Ansonsten kopiert Elaine Stuyrtevant die Werke anderer haargenau bis auf die Signatur - da inszeniertsie sich noch selbst- und die "siebzehn jährige" Kyoto Date ist seit Ende 1996 der erste japanische Star, der nur als rein cyberspaceformierte Computersimulation existiert. Aber auch die selbstentfremdete Verbraucherseite hat versagt. Bsp.: Die Installation der Konzeptkunst in der erweiterten Hamburger Kunsthalle (Einweihung 2/97): Dort, wo die Künstler größtmöglichen Freiraum lassen, wird dieser nicht genutzt: Unzählige Darstellungsmöglichkeiten von Laurence Weiners OVERTURNED. TURNEDOVER. AND OVERTURNED. AND TURNDOVER. (1970) – der Künstler hat lediglich verfügt diese Worte auf irgendeine Weise zu reproduzieren, Replikanten haben freie Hand aber was tun sie: Die Wörter kommen in der gleichen Größe, im gleichen Zeilenbruch, im gleichen Schrifttyp, in gleicher Farbe an die Wand, wie Weineres auf der documenta 9 getan hat, nicht die geringste Abweichung! Und bei der Reproduktion von Sol LeWitts A Straight Line and not a Straight Line (1974) – das Zertifikat läßt dem Ausführenden alle Freiheiten beim Malen der Linien auf die Wand - wird sich sklavisch an dessen Skizze gehalten, die doch nichts anderes sein will als ein Vorschlag!
Theoretiker bieten den Überbau: 1907 teilte der Schweizer Ferdinand de Saussure das Zeichen· in Bezeichnetes (Signifikat) und Bezeichnendes (Signifikant) auf - seither wird sich nahezu ausschließlich mit der Interaktion und des Verhältnisses der Signifikanten untereinander beschäftigt (Semantik): sie definieren sich gegenseitig, der Bezug zum Signifikat geht derweil verlustig, das Original als Original ist nonexistent Für Marshall McLuhan heißt es "the medium is the message", Roland Barthes postuliert in den 70ern den "Tod des Autors", und der Systemtheoretiker Niklas Luhmann spricht von den Massenmedien, die ihre Realitäten erst selbst konstruieren müssen. Der französische Philosoph jean Baudrillard bietet mit seiner SimulakrumTheorie den krönenden Abschluß: Der Signifikant reflektiert keine grundlegende Realität - er maskiert oder verfälscht sie auch nicht, er maskiert auch nicht die Abwesenheit von Rea lität, er wird zum bloßen Simulakrum, d.h. zur bloßen Simulation mit keinerlei Beziehung zu einer etwaigen Realität: Der perfekte Nährboden für den zwiespältig-schwammigen Replikanten im Zeitalter des Cyberspace - wo kein Original ist, hat der Replikator freies Spiel. Und doch: Alleingelassen verkommt er zur Hülle, zu einer Beliebigkeit, ist Spiel, Spaß und Spannung und Spur einer Leerstelle. Die ernsthafte Beschäftigung mit dem Ich, zumindest der Bezug darauf, der Doppelgänger, der Replikator als Reflektion und veräußerlichte Innenbetrachtung, all das kann er nicht mehr leisten.
In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, daß gerade Marcel Duchamp, der Vater des Multiple im 20 Jhd. - er signierte seit 1913 diverse Massenwarenartikel, die sog. "ready-mades" und reproduzierte diese in den 40ern als Miniaturen für seine Schachtel-im-Koffer – mit der Theorie des "inframince" (des "ultra -dünnen") aufwartet: Hier will er aufzeigen, wie alle identischen Gegenstände, perfekte Reproduktionen, via "Inframince" -Differenzen letztendlich doch in ihrer Einzigartigkeit erhalten bleiben- und sei es nur über die poetisch-erotisierte Betrachtung des Philosophen solcher Phänome. Es war die Amerikanerin Gertrude Stein, die zu Beginn dieses Jahrhunderts den Satz schrieb: "A rose is a rose is rose". Serialität mitnichten. In seiner leichtfüßigen Eindringlichkeit, der Vehemenz der Wiederholung, führt der Satz uns immer wieder dorthin, wo Sprache nichts mehr zu suchen hat, nimmt uns an der Hand zu dem Original, das keine Übersetzung, keine Replik zuläßt und mahnt zugleich die leere Hektik selbstverliebt-born ierter Überproduktionan -ein Satz der in den Köpfen der Replikator-Produzenten am Ende dieses Jahrtausends als ungehörtes Echo verhallt.
"Ne fooldesthow nat to-gydere by replycasion" (Geoffrey Chaucer, 1374)
"Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu" - so will es zumindest Das Buch Genesis (Kapitel 2/22): Adam und Eva, aus der Rippe Adams erschaffen, im Paradies. Auf der Spurensuche nach dem ersten Replikanten jedoch weit gefehlt, denn geht man selbst davon aus, daß die fünf Bücher Moses auf mündliche und schriftliche Traditionen bis zum Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus zurückreichen, dann behauptet sich folgender anachronistischer Lazarus avant la lettre bereits seit über 1000 Jahren - Ehre, wem Ehre gebührt: Die Bühne also frei für Enkidu, dem Helden nicht nur der vierten sumerischen Dichtung des gutmöglich v. Chr.) entstandenen Zyklus: Als guter Knecht des Herrschers Gilgamesch - dem König der Doppelstadt Uruk-Kullab im Zweistromland-wandelt Enkidu in die Unterwelt, um den von Gilgamesch aus dem Baum der Göttin Innana geschnitzten Reifen zurückzuholen. Da er aber die Anweisungen seines Königs zum Aufenthalt in der Unterwelt stets gegenteilig befolgt, wird er so lange dort festgehalten, bis es Enki, dem Gott der Weisheit, schließlich gelingt, ihn zurück auf die Erde zu holen- der zurückgekehrte Enkidu als erster Replikator: Ob Totengeist oder als dem Leben wiedergewonnener Mensch - von den über sechzig Fragen des Gilgamesch zum Verbleib seines Knechtes beantwortet er keine, über sein weiteres Schicksal wird nichts berichtet.
Noch ein Zeitsprung, zu Platon - diesmal mitten in die Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus: Die Dichter, Verfasser der Genesis und des Gilgamesch inklusive, verbannt dieser aus seinem idealen Staat: Denn wie kann die gesamte ars poetica, mitsamt der Dichtkunst, in welcher Replikatoren erscheinen, etwas anderes sein als die Replik einer Replik? Staat (10. Buch), der Begriff der Mimesis/Nachahmung: So gibt es etwa die Idee des Bettes als "Urbild des Bettes" (frisch aus dem kosmos noetos, unveränderlich und vollkommen), dann das vom Tischler gefertigte Bett (dies unvollkommene Sinnending aus der Welt des Wahrnehmbaren, kosmos aisthetos) und schließlich das gemalte Bett. So ist jedes Kunstwerk a priori eine unvollkommene Replik. Aber nicht nur das:
Anderswo, in der von ihm festgehaltenen Rede des Aristophanes, finden wir eine ganz eigensinnige Beschreibung der Entstehung von Mann und Frau. Vom Mond her kommend, gab es nämlich noch ein drittes Menschengeschlecht- den Mannweibmensch mit doppeltem Kopf, vier Beinen und Händen und selbstverständlich zwei Genitalien. Dem großen Zeus wurden diese Wesen zu mächtig und so teilte er sie entzwei. Hälften eines gleichen Wesens, die sich auch heute noch suchen und begehren, verfielfältigen und reproduzieren: "Jeder von uns Menschen ist Stück von einem anderen Menschen, denn nur durch den Willen der Götter sind aus einem zwei geworden" - und die Götter selbst, die konnten sich meist in alles und jeden verwandeln.
Jedoch genug vom Olymp- ersteinmal der Versuch einer Begriffserklärung:
Faksimile, Kopie, Data, Multiple, Nachahmung, Imitat, Duplikat, Counterfeit, Engel, (siamesischer) Zwilling, "Nimm 2", Potenz (algebraische), Plagiat, Nachbildung, Reproduktion, Xerox, Verfielfältigung, Doppelgänger, L'Autre, Ethopoeie, Terminator, Spiegelbild, Replik, Tautologie, Simulakrum, Metamorphose, Dreifaltigkeit, Jekyli/Hyde, Alchimie, Druckerpresse, Auferstehung, Androide, Androgyne, Alliteration, Theater, Fabel, Übersetzung, "Biade Runner", Mumie, Automat, Dummy, Symmetrie, Kybernetik, Cyberspace, Negativ, Synonym, Simili, Vexierbild, Dolly, Drakula, Zombie, Chaostheorie, Schallplatte, Voodoo, LSD, Janus, Zwitter, Traum, Roboter, Porträt, Deja -vu, Abziehbild, Abzug, Vielfalt, die "La Ola- Welle", Narziß, Doublette, Double, Hermaphrodit, Duplikat, Abdruck, Logarithmus, Parallelität, 4. Dimension, CD, serial killer, Paar, Pseudonym, Alter Ego, Namensvetter, Kernspaltung, Spiegelbild, Zellteilung, Matrize, Durchschlag, Schatten, Fata Morgana, Spur, Imprint, Diskette, Palindrom, Anagramm, Kupferstich, Lithographie, Radierung, Gußform, Scanner, Doppelhelix, image-fiction, Klone, TV, Playback, Stuntman, Durchpausen, Homonym, inframince, Wdh,. Alias, a.k.a., ß, etc., usw., und, Serialität, Teufelskreis, OIT-Set, Mimesis, schwarzes Loch, Metafiktion, Analogie, Adaption, Remake, Transformer, Reinkarnation, Cameo, Transsubstantiation, Häutung, Metamorphose, trompe l'oeil, Placebo, "Das zweite Gesicht", Dopplereffekt, Metempsychose, Ikone.
Babylonisches Gebabbel, biblische Sprachenverwirrung, doch bevor uns Eva 1886 wiederbegegnet, erstmals eine etymologische/sprachgeschichtliche Herleitung: eigtl. also plica (lat. Falte), ein wieder auseinanderfalten. 1622 begegnet uns in der englischen Sprache erstmalig der Replikant als applicant, als Applikant: Bewerber. Und zwar in Mabbes Übersetzung aus dem Jahre 1622 von Mateo Alemans Guzmän de Alfarache (1604): "Another replicant [ ... ] beseeching him to bestow upon him some old shirt".
Der Brockhaus in seiner Leipziger Ausgabe von 1908 (Band XII I) bringt noch mehr Varianten mit hinein ins Spiel, replizieren kennt er nur als entgegnen (engl. reply, frz. replique) ein Erwidern v. a. in Prozeßverfahren, jedoch: "Auf die Replik kann eine Duplik, auf diese allenfalls eine Triplik und sogar Quadruplik folgen".
Bevor es zu kompliziert wird, konstatieren wir lieber ein "Schuster, bleib' bei deinen Leisten", zumal ja auch Zeus zum Auseinandertrennen der doppelten Hermaphroditen ebenfalls ein Werkzeug benutzte, ähnlich jenen, dessen sich die Schuster zum Glattstreichen des Leders bedienen - und kehren wir zurück zu unserem Replikanten von 1622, der um ein altes Hemd zum Ankleiden bittet - nur um festzustellen, daß die Folgegeneration nicht mehr zu betteln braucht: In L'Eve Future (1886), dem Dekadenzroman von Villiers de L'lsle-Adam, wird Eva ganz und gar eingekleidet, denn sie ist ein mit Haut & Haar reproduzierter weiblicher Automat: Lord Celian Ewald liebt die wunderschöne Sängerin Alicia Clary. Die ist ihm jedoch vom Geist her derart mittelmäßig, daß er Thomas Alva Edison (den Erfinder u.a. des Grammophons) darum bittet, ihm ein elektro-magnetisches Geschöpf zu basteln - Hadaly, die "Androsphynge"- ,welche er, so perfekt ist sie, im Laufe des Romans schließlich mit Alicia verwechseln wird.
Keineswegs auf die leichte Schulter zu nehmen dies: Paul Virilio, der große frz. Ästhetiker & Philosoph des Verschwindens & der Geschwindigkeit, erklärt dazu zukunftsweisend in einem Gespräch mit der Leiterin der documenta X (1997), Catherine David: "Alle sollten noch einmal das große Buch von Villiers de L'Isle-Adam, Die Eva der Zukunft, lesen, die den Ursprung der Maria in Fritz Langs Metropolis bildet, der elektrischen Frau. Er nimmt die Überschreitung des Körpers durch Wellenkörper, durch Sende- und Empfangskörper voraus, also die Cybersexualität, aber auch die Cybersozialität oder die Cyberkultur im allgemeinen". (Seit William Gibsons Newromancer von 1984 sind es Autoren wie Douglas Coupland oder Mark Leyner, die die etwas beliebigere Spielart vom Replikator im Cyberspace zum Thema machen).
Von der Zukunft der Eva der Zukunft zurück in ihre Vergangenheit, an die Ingolstädter Uni, wo der Naturwissenschaftler Victor nicht besseres zu tun hat, als aus Menschenknochen und Leichenteilen etwas zusammenzusetzen, das seinen Nachnamen trägt und seit dem Erscheinen von Mary Shelleys Roman 1818 in zahlreichen Repliken unvergeßlich geworden ist: Frankenstein.
Hierzulande treibt außerdem, diesmal nicht fiktiv, E.T.A. Hoffmann sein Doppelspiel, und seine Elixiere des Teufels nahm Freud Anfang dieses Jahrhunderts zum Anlaß, in „Das Unheimliche“ auch das Phänomen des Doppelgängers zu untersuchen. Die Ich-Verdoppelung als "energische Dementierung der Macht des Todes" (Otto Rank), "wahrscheinlich war die "unsterbliche" Seele der erste Doppelgänger des Leibes". Ob die Wiederkehr der Toten oder der dämonische Charakter eines inneren Wiederholungszwanges - all dies weist für Freud unheimlich zurück auf die Versuchungen des Aberglaubens unserer "primitiven" Urahnen. Und eben diese Welt hat James George Frazer zu Freuds Zeiten in 12 Bänden (The Golden Bough - A Study in Magie and Religion) beschrieben:
Hier schnauft der Eskimo nachahmend wie der verwundete Wal, den er mit einem verzauberten Speer getroffen hat, Vegetationsgottheiten werden im europäischen Volksbrauch doppelt dargestellt - durch Pflanzen und durch Puppen, Repliken von Hexen werden verbrannt, um den Zauber zu bannen, und während einer Dürre im Taraschansk-Gebiet grub man noch 1868 die Leiche eines Dissidenten aus und ahmte Regen nach, indem man flehend Wasser durch ein Sieb auf den Leichnam fließen ließ.
Doch zurück und in der Zeit voran zu Freud oder vielmehr hin zu seiner Nachkommenschaft, denn dort ist es Jacques Lacan, der ein nicht unwichtiges Wort zu unserem Thema salonfähig machte: L' Autre, das Andere, the Other: in der Spiegelphase erkennt das Kleinkind zum ersten Mal sich selbst, gestikulierend stellt es eine Beziehung zu seiner/ ihrer Spiegelung her, die Erschaffung des Ideal-Ich, das immer fiktiv bleiben muß, da der Spiegel das Kind und dessen/deren Wissen um die eigene Psyche und Physis gefälscht offeriert. Nicht nur die Psychoanalytiker, auch die Künstler haben sich mit der (gesellschaftlichen) Konstruktion des Seins auseinandergesetzt, und deshalb nun ein Nachschlag zum Doppelgänger, der Replik in der Literatur:
Miguel de Cervantes Saavendra läßt im zweiten Teil des Don Quijote (1605/1615) selbigem von seinem Knecht Sancho Pansa von den Historien des Cide Homete Beregeli berichten, in welchen von den Geschichten des Don Quijote aus dem ersten Teil berichtet wird - somit wird die erste Hälfte des Romans zur Fiktion der Fiktion der zweiten Hälfte des Romans.
Dostojevskijs Der Doppelgänger (1846). Goljadkin hoch zwei, ist ebenso bekannt wie das Doppelspiel von Mr. und Mrs. Martin in Ionescos Die kahle Sängerin (1950) – vielleicht weniger die Erzählung EI Altro (1975) des argentinischen Autors Jorge Luis Borges, in der der fiktive Protagonist Borges auf einen fiktiven Borges trifft. Was die Replik anbelangt, ist Borges Spezialist: in einer weiteren Geschichte werden Landkarten erwähnt, die so präzise sind, daß sie 1:1 die auf ihnen reproduzierte Landschaft abdecken.
Goethes Faust dagegen hält die Replik im eigenen Leib ( "Es wohnen, ach, zwei Seelen in meiner Brust"), wohingegen Artbur Rimbaud in den Seherbriefen (1871) festhält "Ich ist ein Anderer". Der Selbstmörder Heinrich von Kleist ist es, der in seinem Aufsatz Über das Marionettentheater (1810) die Replik in ihrer natürlichen Grazie als Gott gleich erhebt und sie über das fortwährend reflektierende Bewußtsein des Menschen stellt - zu einer Zeit übrigens, als ganz Europa von schachspielenden Automatenmenschen (ein Trick, wie sich herausstellen sollte, denn ein Zwerg saß im untergestellten Kasten und steuerte die Bewegungen) an der Nase herumführen ließ.
1940 ist es der irische Autor Flann O'Brien, der mit seinem Roman Der Dritte Polizist (1940) die Atomtheorie aufstellt: Je mehr Zeit man mit einem Gegenstand verbringt, desto mehr wird man zu diesem Gegenstand, da die Atome z.B. eines Fahrrads, auf eine Person, die sehr viel Fahrrad fährt, übertragen werden, weswegen z.B. ständige Fahrradfahrer nicht mehr ohne irgendwo anzulehnen ruhig und aufrecht stehen können, da sie sonst das Gleichgewicht verlören.
Und noch einmal in die Zeit um Christi Geburt, zu Ovids Metamorphosen, wo sich Menschen in Pflanzen wandeln und Pygmalion, der zyprische König, von seinem Frauenideal eine lebensechte Statue anfertigen läßt, da keine lebende Schönheit seinen Ansprüchen gerecht wird (es war übrigens Dürer, der in Nürnberg Dutzende von Frauen flanieren ließ, um aus ihnen den idealen weiblichen Körper zu kredenzen). Aphrodite hat Mitleid, erweckt die Statue zu Leben und Galatea, so heiß! Sie nun, gebiert dem König sogar ein Kind. 1913 dann ist Pygmalion Namenspatron für George Bernhard Shaws bekannteste Komödie, allerdings spielt er dort den Professor Henry Higgins, der das Blumenmädchen Eliza Doolittle zu formen und zu bilden sucht.
Jedoch nun zur Kunst, zur bildenden:
Von römischen Skulpturen über monastische Buchmalereien und Künstlerwerkstätten der Renaissance zum Multiple des 20. Jahrhunderts: Die Kopie, die Replik, hat es immer gegeben - aber erst im 20. Jahrhundert befindet sich Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: der wichtige Aufsatz von Walter Benjamin von 1935, marxistisch-materialistisch - Einforderung einer Politisierung der Kunst, weg von der ästhetischen Beliebigkeil eines l'art pour l'art: Guß, Prägung, Holzschnitt, Kupferstich, dies hat es zwar alles vorher gegeben - vor allem aber Lithographie und später Photographie und später Film heben die Autorität der Einmaligkeit des Kunstwerks, die Aura des fernen Hier & jetzt endgültig auf (erste xerographische Kopie: 1938).
Alles schön und gut, doch mit Politik scheinen unsere postmodern-ironisierenden Copy-Art Künstler der zweiten Hälfte dieses 20. Jahrhunderts nicht viel am Hut zu haben. Reproduktion bedeutet hier in erster Linie Kohle. Obschon der Serialität (Dol lamoten, Suppendosen, usw.) verschrieben, holt Warhol die Aura via Star-Kult der eigenen Person zurück, und wäre er nicht gestorben, er würde nun seine eigenen Werke reproduzierend zitieren, wie all die greisen Pop-Artisten der 90er. Ansonsten kopiert Elaine Stuyrtevant die Werke anderer haargenau bis auf die Signatur - da inszeniertsie sich noch selbst- und die "siebzehn jährige" Kyoto Date ist seit Ende 1996 der erste japanische Star, der nur als rein cyberspaceformierte Computersimulation existiert. Aber auch die selbstentfremdete Verbraucherseite hat versagt. Bsp.: Die Installation der Konzeptkunst in der erweiterten Hamburger Kunsthalle (Einweihung 2/97): Dort, wo die Künstler größtmöglichen Freiraum lassen, wird dieser nicht genutzt: Unzählige Darstellungsmöglichkeiten von Laurence Weiners OVERTURNED. TURNEDOVER. AND OVERTURNED. AND TURNDOVER. (1970) – der Künstler hat lediglich verfügt diese Worte auf irgendeine Weise zu reproduzieren, Replikanten haben freie Hand aber was tun sie: Die Wörter kommen in der gleichen Größe, im gleichen Zeilenbruch, im gleichen Schrifttyp, in gleicher Farbe an die Wand, wie Weineres auf der documenta 9 getan hat, nicht die geringste Abweichung! Und bei der Reproduktion von Sol LeWitts A Straight Line and not a Straight Line (1974) – das Zertifikat läßt dem Ausführenden alle Freiheiten beim Malen der Linien auf die Wand - wird sich sklavisch an dessen Skizze gehalten, die doch nichts anderes sein will als ein Vorschlag!
Theoretiker bieten den Überbau: 1907 teilte der Schweizer Ferdinand de Saussure das Zeichen· in Bezeichnetes (Signifikat) und Bezeichnendes (Signifikant) auf - seither wird sich nahezu ausschließlich mit der Interaktion und des Verhältnisses der Signifikanten untereinander beschäftigt (Semantik): sie definieren sich gegenseitig, der Bezug zum Signifikat geht derweil verlustig, das Original als Original ist nonexistent Für Marshall McLuhan heißt es "the medium is the message", Roland Barthes postuliert in den 70ern den "Tod des Autors", und der Systemtheoretiker Niklas Luhmann spricht von den Massenmedien, die ihre Realitäten erst selbst konstruieren müssen. Der französische Philosoph jean Baudrillard bietet mit seiner SimulakrumTheorie den krönenden Abschluß: Der Signifikant reflektiert keine grundlegende Realität - er maskiert oder verfälscht sie auch nicht, er maskiert auch nicht die Abwesenheit von Rea lität, er wird zum bloßen Simulakrum, d.h. zur bloßen Simulation mit keinerlei Beziehung zu einer etwaigen Realität: Der perfekte Nährboden für den zwiespältig-schwammigen Replikanten im Zeitalter des Cyberspace - wo kein Original ist, hat der Replikator freies Spiel. Und doch: Alleingelassen verkommt er zur Hülle, zu einer Beliebigkeit, ist Spiel, Spaß und Spannung und Spur einer Leerstelle. Die ernsthafte Beschäftigung mit dem Ich, zumindest der Bezug darauf, der Doppelgänger, der Replikator als Reflektion und veräußerlichte Innenbetrachtung, all das kann er nicht mehr leisten.
In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, daß gerade Marcel Duchamp, der Vater des Multiple im 20 Jhd. - er signierte seit 1913 diverse Massenwarenartikel, die sog. "ready-mades" und reproduzierte diese in den 40ern als Miniaturen für seine Schachtel-im-Koffer – mit der Theorie des "inframince" (des "ultra -dünnen") aufwartet: Hier will er aufzeigen, wie alle identischen Gegenstände, perfekte Reproduktionen, via "Inframince" -Differenzen letztendlich doch in ihrer Einzigartigkeit erhalten bleiben- und sei es nur über die poetisch-erotisierte Betrachtung des Philosophen solcher Phänome. Es war die Amerikanerin Gertrude Stein, die zu Beginn dieses Jahrhunderts den Satz schrieb: "A rose is a rose is rose". Serialität mitnichten. In seiner leichtfüßigen Eindringlichkeit, der Vehemenz der Wiederholung, führt der Satz uns immer wieder dorthin, wo Sprache nichts mehr zu suchen hat, nimmt uns an der Hand zu dem Original, das keine Übersetzung, keine Replik zuläßt und mahnt zugleich die leere Hektik selbstverliebt-born ierter Überproduktionan -ein Satz der in den Köpfen der Replikator-Produzenten am Ende dieses Jahrtausends als ungehörtes Echo verhallt.